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Verzeihen ist besser als Vergelten. Über den Umgang mit moralischen Verfehlungen in der antiken Ethik, in: Johannes Brachtendorf/Stephan Herzberg (Hg.), Vergebung. Philosophische Perspektiven auf ein Problemfeld der Ethik, Münster: mentis 2014, 85-114
Stephan Herzberg
Über den Umgang mit moralischen Verfehlungen in der antiken Ethik 1. DER PERFEKTIONISTISCHE RAHMEN DER KLASSISCHEN ANTIKEN ETHIK Wie kein anderer Begriff unserer Moralsprache ist der Begriff der Vergebung oder Verzeihung ein Indikator für die Schwäche der menschlichen Natur: Als leih-seelische Vernunftwesen, die einerseits eine Vielzahl von Bedürfnissen und Interessen haben und andererseits unter dem Anspruch zahlreicher mo ralischer Normen stehen, werden Menschen immer wieder moralisch schul dig. Die moralische Verfehlung ruft beim Geschädigten das Streben nach Rache oder Vergeltung hervor 1 , woraus sich eine unabsehbare Kette neuer Schuldzusammenhänge zu entwickeln droht. Zentrale Aufgabe einer Ethik, welche die conditio humana ernst nimmt und in der eigenen Theoriebildung zu berücksichtigen versucht, ist es, durch begriffliche und normative Refle xion auf den Begriff der Vergebung 2 zur Überwindung von menschlicher Schuld und zur Wiederherstellung sowohl gestörter interpersonaler Bezie hungen (Haß, Verachtung, Feindschaft) als auch gestörter intrapersonaler Beziehungen (Scham, Zerwürfnis mit sich selbst) beizutragen. Der Begriff der Vergebung ergibt in einer Welt reiner Vernunftwesen mit einem »heiligen Willen« keinen Sinn. In ähnlicher Weise könnte sich auch im Blick auf die klassische Antike mit ihren an der Vollendungsform menschli chen Seins orientierten Ethik-Konzeptionen, ihrem ethischen Perfektionis-1 Nach Aristoteles ist das Streben nach Rache oder Vergeltung tief in der Natur des Menschen verwurzelt: ,.Denn Rache 2.u üben ist menschlicher« (anthropikoteron gar to timerreisthai: EN IV t 1, t 126a30). Wie wir noch genauer sehen werden, handelt es sich hier lediglich um eine Beschreibung des typisch menschlichen Verhaltens. Vgl. die (etwas 2.u freie) Übersetrung von Dirlmeier: »die Menschennatur unterlie gt ja leichter dem Zug zur Rache«. 2 Dies 2.eigt sich in der gegenwärtigen Literatur vor allem in 2.wei Fragenkomplexen: (t) Was ist Vergebung? Gibt es einen paradigmatischen Begriff der Vergebung und was sind seine wesentlichen Merkmale? (2) Wie ist Vergebung als Verzicht auf berechti gt e Ansprüche des Geschädi gt en überhaupt zu rechtfertigen? Wie verhält sich Vergebung zu den Forderungen der Gerechtigkeit, wie zur Selbstachtung? Stephan Herzberg mus 3 , der Verdacht nahelegen, daß hier der Begriff der Vergebung keinen Platz hat: Nach Sokrates kann einem sittlich guten Menschen von einem sitt lich schlechten Menschen kein Schaden zugefügt werden (Apologie 30c9-d2); für einen guten Menschen gibt es kein Übel, weder im Leben noch im Tod (Apologie 41 c9-d2). Höchstes Prinzip der Sokratischen Ethik ist, daß man auf keine Weise Unrecht tun darf (Kriton 49b7); das Unrechttun ist schlimmer als das Unrechterleiden und der Unrechttuende fügt sich selbst den größten Schaden zu (Gorgias 508e4-6, 509b1f.). Für Platon ist es nicht Sache des Gerechten, jemandem zu schaden, weder einem Freund noch sonst einem Menschen (Politeia I 335d12f.). Während der Gerechte ein Leben in innerer Harmonie führt, zeigt sich der Ungerechte als ein von den eigenen Begier den Getriebener, der im permanenten Zerwürfnis mit sich selbst leben muß (Politeia IV 444b; IX 579c-580c). Für Aristoteles bedeutet die Gerechtigkeit im allgemeinen Sinn ebenfalls eine umfassende Rechtschaffenheit: Als die »vollkommene« oder »ganze Tugend« umfaßt sie alle anderen Tugenden, in sofern sie in Bezug auf den anderen Menschen zur Anwendung kommen. Der Großgesinnte (megalopsychos), der sich selbst großer Dinge für wert hält und dies auch tatsächlich ist und dabei der Großte in jeder Tugend ist 4 , sieht über Unrecht, das ihm gegenüber von einem Ungerechten begangen wurde, souverän hinweg. 5 Welche Unterschiede im Einzelnen auch immer zwischen diesen Ethik Konzeptionen bestehen, im Hinblick auf die Frage nach einem Begriff der Vergebung scheinen sie auf ein und dasselbe hinauszulaufen: Einerseits kann der gerechte oder sittlich vortreffliche Mensch, der in diesen Ethiken als Richtschnur und Maß (kanon kai metron) fungiert, per definitionem kein Unrecht begehen und wird somit niemals in die Lage kommen, auf Verge bung angewiesen zu sein. Diese Ethiken scheinen auf eine Welt abzuzielen, in der es keine Vergebungsbedürftigkeit mehr gibt. Andererseits ist der gerechte oder sittlich vortreffliche Mensch aufgrund seiner bestmöglichen seelischen Verfassung nicht durch Unrecht verletzbar bzw. darüber erhaben, der Un gerechte verletzt sich vielmehr selbst. Der Gerechte wird somit niemals in die Lage kommen, Vergebung gewähren zu müssen. Diese Ethiken scheinen auf eine Welt abzuzielen, in der es keine Vergebungsbereitschaft mehr zu ge-3 Vgl. hierzu die Studie von Hurka 1993. 4 Die Großgesinntheit (megalopsychia) setzt die ethischen Tugenden voraus und "macht sie größer«; man kann nicht großgesinnt sein, ohne ein edler und guter Mensch (kalokagathia) zu sein (vgl. Liatsi 2011, 51f.). Die Großgesinntheit scheint "eine Art Schmuck (kosmos) der Tugenden zu sein; denn sie macht sie größer und entsteht nicht ohne sie« (EN N 7, 1124a1-3; Übers. Wolf mit Änderung). 5 "Ebenso wenig ist er nachtragend; denn es entspricht nicht der Art des Großgesinnten, Er innerungen zu speichern, schon gar nicht an Schlechtes, sondern es vielmehr zu übersehen (parhoran)« (EN N 8, 1125a3-5; Übers. Wolf mit Änderung). Verzeihen ist besser als Vergelten 87 ben braucht. Tatsächlich finden wir in den Tugendkatalogen der klassischen Antike keine Tugend der Vergebung, etwa als Mitte zwischen Servilität und Hartherzigkeit. 6 Daraus folgt aber gerade nicht, daß in diesen Ansätzen der Vergeltungs gedanke im Sinne der Talion in Kraft wäre: Aus dem Prinzip, daß man auf keine Weise Unrecht tun darf, leitet Sokrates ab, daß auch nicht der, dem Un recht geschehen ist, wieder Unrecht tun darf (antadikein), wie »die Vielen« glauben (Kriton 49b9 f.). Platon wendet sich scharf gegen ein Verständnis von Gerechtigkeit, das darin besteht, Freunden Gutes zu tun (oder zu nützen) und Feinden Böses zu tun (oder zu schaden), also »Schaden wie Wohltat mit gleicher Münze heimzuzahlen« 7 , womit ein populäres Gerechtigkeits verständnis artikuliert wird (Politeia I 332d7f., 334b8f.). 8 Auch Aristoteles wendet sich gegen das Gerechtigkeitsverständnis der Pythagoreer, die das Gerechte »als reziprokes Erleiden (to antipeponthos) dessen, was man einem anderen zugefügt hat« bestimmen (EN V 8, 1132b22f.; übers. Wolf). Wel che ethischen Weisungen werden aber dann in diesen Ethiken entwickelt, wie mit moralischen Verfehlungen umzugehen ist, und wie werden diese im Einzelnen begründet? 2. DER BEGRIFF DER syngnome Wenn man sich innerhalb der antiken Ethik auf die Suche nach einem Be griff des Vergebens oder Verzeihens macht, stößt man früher oder später auf den Terminus syngnome. Es handelt sich hier um ein »in der Alltagssprache fest eingebürgtes Wort«, das »das Geschehen >Verzeihen< in einem so wei ten Spektrum vom Entschuldigen einer Formulierung bis zur Straflosigkeit eines Kapitalverbrechens« umfaßt. 9 Es ist aus syn-gignoskein gebildet, hat also eine kognitive Grundbedeutung im Sinne von »miteinander erkennen«, »übereinstimmen«, »zugestehen«. Nach Karin Metzler kann aus dem Ver gleich der Verwendungsweisen der Bedeutungskern »sich auf den Standpunkt 6 Vgl. Griswold 2007, 14: »The perfected person is nearly or totally immune from mistakes in judgment; there is nothing of the past for him or her to undo, reframe, or accommodate, at least so far as the past is connected with perfected agency [ •.. ] Forgiveness is more appropriate to an outlook that emphasizes the notion of a common and irremcdiably finite and fallible human nature, and thus highlights the virtues that improve as weil as reconcile but do not aim to >perfect< in the sense we have examining. Forgiveness is a virtue against the background of a narrative about human nature and its aspirations that accepts imperfection as our Jot«.
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‚Durch Leiden lernen‘? Aurelius Victor, Marc Aurel, Hipparchos und Nikaia – oder: Warum straft ein Kaiser eine Stadt. Überlegungen zu Aur. Vict. 41,19–20
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Titelbildnachweis Band II: Attisch-schwarzfi gurige Kleinmeisterschale; um 510 v. Chr.; Vs.: sich umblickender Reiter n. r. (Archäologisches Museum der WWU Münster, Inv. 297) (Foto: Robert Dylka). Der Reiter auf der Vorderseite der Schale bildete die Vorlage für das Logo des Instituts für Klassische und Christliche Archäologie der WWU Münster. Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar. © 2016 SCRIPTORIUM HISTORISCH-ARCHÄOLOGISCHE PUBLIKATIONEN UND DIENSTLEISTUNGEN Trappweg 12 34431 Marsberg/Padberg Internet: <http://www.scriptorium-muenster.de> Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Das Einstellen von Sonderdrucken auf Plattformen wie academia.edu oder ähnlichen Einrichtungen ist nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Verlages erlaubt. Die Vergütungsansprüche des § 54, Abs. 2, UrhG, werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen.
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Fabula docet? Überlegungen zur Lehrhaftigkeit von Fabel und Sprichwort
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Von listigen Schakalen und törichten Kamelen. Die Fabel in Orient und Okzident. Wissenschaftliches Kolloquium im Landesmuseum Natur und Mensch in Oldenburg […]. Hg. Von Mamoun Fansa und Eckhard Grunewald. Wiesbaden: Reichert 2008, S. 37–54., 2008
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Ludwig Klages und die Ethik der Erde im frühen 20. Jahrhundert, in: Sophia Gräfe / Georg Toepfer (Hg.): Wissensgeschichte des Verhaltens, Berlin: De Gruyter 2025, S. 65-80.
Leander Scholz
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Klatsch, Gerüchte und fama als moralisches Kapital im spätrepublikanischen und frühkaiserzeitlichen Rom, in: E. Hartmann, S. Page und A. Thurn (Hrsg.), Moral als Kapital im antiken Athen und Rom, Stuttgart 2018, 95–116
Jan Meister
2018
War Plinius eine ‚Klatschbase'? Die Frage ist nicht so absurd, wie sie scheinen mag. Denn in einem gewohnt elaborierten Kunstbrief führt Plinius aus, welche Freuden ihm das Landleben bereitet, und kontrastiert dabei in geradezu idealtypischer Weise die antike Konzeption des ländlichen otium mit dem negotium, das einen in der Stadt erwartet. Eine der lästigen Aufgaben, von denen man auf dem Land befreit ist, charakterisiert Plinius wie folgt: "Nichts höre ich, was zu hören, nichts sage ich, was zu sagen ich bereuen würde; niemand verleumdet irgendwen bei mir mit bösen Reden und ich selbst tadle niemanden, außer mich selbst, wenn ich weniger schreibe, als ich sollte; keine Hoffnung, keine Angst bewegt mich, von keinen Gerüchten werde ich beunruhigt: so sehr unterhalte ich mich mit mir selbst und meinen Büchern." 1 Es lohnt sich, diese Aussage genauer zu betrachten. Das Sammeln, Weitergeben und Beobachten von Gerüchten stellt für Plinius offenbar einen integralen Bestandteil dessen dar, was ein Aristokrat in der Stadt zu tun hat. Das ist nicht selbstverständlich: Wie PASCAL FROISSART in einer Geschichte zur Erforschung und Diskursivierung von Gerüchten im 20. Jh. gezeigt hat, werden in der Moderne Gerüchte vor allem als Phänomen erstens von Unterschichten und zweitens von Frauen angesehen. 2 Nicht dass das der Realität entspräche, die sieht-das macht FROISSART sehr deutlich 3-ganz anders aus, zentral ist die Selbstbeschreibung, die damit, ob treffend oder nicht, gemacht wird. Da ist es doch interessant, dass im antiken Rom der Umgang mit Gerüchten als zentraler Bestandteil des aristokratischen negotium angesehen wird. Oder anders formuliert: Ja, Plinius war eine
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"... ist ein hochberümbt Buch gewesen bey den allergelertesten auff Erden." Die Fabeln Äsops in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Von listigen Schakalen und törichten Kamelen. Die Fabel in Orient und Okzident. Hg. v. MAMOUN FANSA u. ECKHARD GRUNEWALD. Wiesbaden 2008, S. 23-36.
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ON ROMAN FUNERARY RELIEFS / „Occultis se notis et insignibus noscunt…“ (MIN. FEL. 9,1): der modius auf den römischen Loculusplatten, in SEBarc XI, 2013, pp. 83-110.
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« Mundus vult decipit ergo decipiatur. Die Fälschungen in der Sammlung Caylus (1692-1765) », in: Th. SCHÄFER, K. ZIMMER, (Hg.), Rezeption, Zeitgeist, Fälschung. Umgang mit Antike(n), Akten des Internationalen Kolloquiums am 31.01 und 01.02.2014 in Tübingen, Tübingen, 2015, 79-87.
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Genealogien der Moral: Prozesse fortschreitender ethischer Qualifizierung von Mensch und Welt im Alten Testament, in: Gut und Böse in Mensch und Welt. Edited by Heinz-Günther Nesselrath and Florian Wilk, ORA 10, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, 83–102
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Die Frage nach Gut und Böse von Mensch und Welt und die historischen Kontexte ihrer Thematisierungen im Alten Testament Ist die Welt gut oder böse? 1 Die These, dass die Welt nicht nur gut, sondern sogar die beste aller möglichen sei, ist seit Gottfried Wilhelm Leibniz' Schrift "Theodizee" aus dem Jahr 1710 2 bekannt. Sie hatte allerdings -wenn überhaupt -nicht viel länger als zwei Generationen Bestand, bis 1759 Voltaire seinen "Candide" veröffentlichte 3 und bis ihr 1784 Wilhelm Ludwig Wekhrlin seinen "Monolog einer Milbe im siebenten Stock eines Edamerkäses" entgegenstellte, 4 in dem sich eine Milbe rühmt, im bestmöglichen Käse hausen zu können, womit Wekhrlin die Zirkelstruktur von Leibniz' Argument bespottete. In der Tat stellt die aufklärerische Autosuggestion zu diesem Thema im Sinne von Leibniz der Sache nach eine gewisse Verkürzung dar, so dass nur schon von daher ein Blick in die Bibel als gewinnbringend für die Fragestellung vermutet werden kann. Dass die Bibel die Frage nach der Güte von Mensch und Welt stellt, steht außer Frage. Aber sie hat sie nicht zu allen Zeiten gestellt und nicht zu allen Zeiten gleich gestellt.
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